Erinnerst du dich daran, wann du dich das letzte Mal so richtig geschämt hast? Wenn ja, dann wirst du das jetzt nicht erneut spüren wollen, weil das eine sehr unangenehme Situation war. Vielleicht bist du rot geworden, dir war kalt oder heiß, du wolltest dich verkriechen…
Was mir in meinem Alltag persönlich und in Gesprächen mit anderen Menschen immer wieder begegnet, ist die Scham. Mich lähmt das Gefühl, ich spüre Unsicherheit und würde mich am liebsten verstecken. Zum Beispiel, wenn ich in einem Online -Webinare meine Gedanken und Gefühle zu einem Thema geben soll und dabei ins Stocken gerade, nicht weiter weiß, wie drück ich mich jetzt am Besten aus? Dann spüre ich meine eigene Unsicherheit und würde am liebsten das Meeting verlassen und die Situation verdrängen und mich etwas positivem zuwenden. Das war zumindest in früheren Zeiten so gewesen.
Inzwischen weiß ich, dass die Scham nichts mit dem aktuellen Webinar zu tun hat.
Natürliche Scham und Beschämung
Die natürliche Scham zeigt sich, wenn wir etwas sehr persönliches, vertrautes von uns einem anderen Menschen gegenüber preis geben. Wir entscheiden darüber, was wir erzählen. Fühlen wir die Scham, wollen wir unseren persönlichen Raum schützen.
Die Beschämung erfolgt von außen. Bloßstellen, entwürdigende Blicke und Worte, Belächeln können zu einer tiefen Beschämung führen.
Zeigt sich häufig das Scham – Gefühl, steckt dahinter die Erfahrung von großer Beschämung in der Kindheit.
„Schäm dich!“ Das ist vielen Menschen in all zu guter Erinnerung, wenn sie an ihre Kindheit denken. Wir haben etwas getan, was unsere Eltern oder Bezugspersonen nicht gefiel.
Und nun im Erwachsenenalter holen uns diese Scham-Erfahrungen immer wieder ein. Aber jetzt können wir sie bewusst spüren und eine Entscheidung treffen, uns nicht von ihnen „überwältigen“ lassen.
Ein Beispiel: Eine junge Frau trägt einen kurzen Rock als sie sich auf dem Heimweg von ihrer Freundin befindet. Sie genießt ihr neues Outfit. Am Tag vorher wurde sie auf das toll aussehende Kleidungsstück von ihren Kolleginnen angesprochen. Die Komplimente ließen Freude in ihr aufsteigen.
Eine Gruppe junger Männer kommt ihr nun auf der Straße entgegen. Sie lachen, pfeifen, rufen ihr anzügliche Bemerkungen hinterher und drehen sich im Vorbeigehen nach ihr um. Der Frau ist das sehr unangenehm. Am liebsten würde sie jetzt im Boden versinken wollen. Ihr Gesicht ist mit einem zarten Rotton bedeckt. Sie senkt den Kopf, läuft schneller, zieht die Schultern hoch. Als sie zu Hause eintrifft, wechselt sie sofort den Rock gegen eine graue, ausgewaschene Jogginghose und wirft ihn achtlos zu Boden.
Was ist hier geschehen? Die Frau wurde von den jungen Männern beschämt und das hat sie unbewusst an frühere Situationen und Erlebnisse erinnert. Sie möchte das Erlebte ausblenden und am liebsten ignorieren. Geht sie nicht in das Gefühl der Scham hinein, wird sie in ähnlichen Augenblicken immer wieder damit konfrontiert werden – oder sie reagiert und spürt, was da gerade passiert.
Wenn Menschen die Scham fühlen, können sie handeln, indem sie Blicken ausweichen, nicht reagieren oder den Raum verlassen. Es ist also wichtig, zu reagieren. Der Moment dafür ist kurz. Reagiere ich, vergeht die Scham.
Die natürliche Scham ist ebenso abhängig von der jeweiligen Situation und von den anwesenden Personen.
Die junge Frau schämt sich bei der Begegnung mit der Gruppe von Männern.
Wenn ihre Freundin die gleiche Bemerkung geäußert hätte, würde sie mit einer schlagfertigen Antwort reagiert. Sie kennen sich und sind sich vertraut.
Was tun, um das Gefühl der Scham (wieder) zu zulassen?
Die Scham schützt uns nicht, aber wenn wir sie fühlen und reagieren, kann eine schützende Handlung erfolgen, damit unser ganz persönlicher Raum gewahrt bleibt. Sie ist kein angenehmes Gefühl, aber sehr wichtig. Welche Erfahrung zeigt sich in diesem Gefühl? Wenn wir das benennen können, fällt es uns leichter, angemessen zu reagieren und eine Veränderung anzustreben.
Mut haben, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und ernst zu nehmen.
Aussprechen und ansprechen – zunächst mit Menschen, die uns vertraut sind. Das kann im Prozess helfen.
Spüre ich Scham, gehört sie zu mir und weist sie mich auf etwas hin – meinen persönlichen Raum zu verteidigen oder beschämt mich ein anderer? Unterscheiden lernen zwischen schämen und beschämt werden. Um den persönlichen Raum zu schützen, brauchen wir die natürliche Scham. Unterscheiden wir zwischen den beiden, dann können wir die Beschämung dem zurückgeben, der sie uns gesendet hat.
Stell dir diese Frage, wenn du in eine Situation kommst, wo du deine Scham fühlst. Es ist ein Prozess und nicht ein einmaliges Geschehen oder Erleben.
Wir werden lebendig, wenn wir fühlen und spüren! Freue ich mich, kann das mein Gegenüber anstecken. Das macht unsere Welt ein kleines bisschen besser.