Vielleicht denken Sie jetzt, dass Sie immer mit offenen Augen spazieren gehen. Diesen Gedanken hatte ich anfangs auch. Aber wenn man beginnt, die Menschen in ihrer Umgebung, die Natur und alles damit verbundene näher und intensiver zu betrachten und zu erfühlen, dann ändert sich dieser Blick.
Mit offenen Augen spazieren zu gehen bedeutet für mich: Mit offenem Herzen den Menschen und der Natur zu begegnen. Es ist möglich, sie mit dem Herzen zu sehen. Wie kann das gehen?
Meine Begegnung mit dem Meer im August letzten Jahres ist so verlaufen:
Barfuß laufe ich durch den Sand an der Küste der Ostsee im Wasser und fühle das kalte, klare Nass prickelnd bis in jede Zehe. Manchmal schwappen die Wellen bis an die Waden. Ich bleibe stehen, schließe sanft die Augen und spüre es. Der Boden ist weich und in ihm tummeln sich vermutlich viele kleine Lebewesen. Auch Muscheln, Steine und vieles mehr. Dazu kommen die Geräusche des Wassers. Die Wellen brechen sich an den Buhnen und das Wasser spritzt in die Höhe, um sich gleich danach wieder zu verteilen und zum Ufer zu gleiten. Es ist ein Rauschen in meinen Ohren. Erst etwas lauter, dann sanfter, ruhiger.
Im Wasser bewegen sich Quallen wie Zauberwesen. Anmutig. Dabei werden sie hin und her gespült. Das Kreischen der Möwen in der Luft erinnert an lachende Kinder beim Spielen. Einige Vögel lassen sich auf den Buhnen nieder und halten Ausschau nach etwas Fressbarem.
Die Sonne auf der Haut zu fühlen, wie sie warm hindurch drängt, gibt mir ein wohliges Gefühl von Zufriedenheit.
Natürlich darf an der Ostsee auch der Wind nicht fehlen. Er spielt mit meinen Haaren und wirbelt sie durcheinander. Wie erfrischend bei dieser warmen Temperatur. Dazu kommt der Duft des Meeres. Salz, Algen und der von der Sonne aufgeheizte Sand sind eine fantastische Mischung. Willkommen!
Lange genieße ich diese intensive Zeit und bin im Augenblick. Es ist, als ob mich die Natur begrüßt und einlädt, zu verweilen. Und ich sehe die Welt, meine Welt mit neuen, anderen, offenen Augen. Es ist eine Schönheit und ich bewundere sie.
Aber nicht nur dieser kleine Flecken ist wunderschön. Wenn man mit offenen Augen spazieren geht, dann ist jeder Ort schön.
Dazu gehören auch die Menschen, denen ich begegne. Ich erkenne ihre Schönheit in ihren Gesichtern. Jeder von ihnen hat eine Geschichte zu erzählen, eine Vergangenheit, eine Zukunft. Ich sehe ihre Augen, ihre Gesichter, ihre Körper. Auch sehe ich, wie sie gehen, sich bewegen, ihre Mimik, ihre Gestik.
Die Menschen, die Bäume, die Blumen, die Vögel, die Insekten, alle Tiere – sie alle haben ihren Platz in dieser Welt. Sie alle haben ihre Aufgabe und ihre Attraktivität.
Ich fühle mich dankbar für diese Welt, für das Leben, das ich führen darf. Und ich wünsche mir, dass die Menschen um mich herum es auch so sehen, so spüren mögen und sich einmal in einem Augenblick verlieren. Es ist kein Leere, sondern dieser ganz besondere Moment, in dem man ganz bei sich ist. Achtsam mit sich und seinem Atem. Fühlen, wie die Luft durch die Nase in den Rachenraum einströmt und weiter durch den Kehlkopf in die Luftröhre gelangt und schließlich in der Lunge ankommt.
Mein Spaziergang mit offenen Augen hat mir gezeigt, wie schön die Welt um mich herum ist und wie wertvoll sie ist. Es sind die kleinen Dinge, die uns glücklich machen und die uns daran erinnern, dass das Leben lebenswert ist. Es liegt an uns, diese zu erkennen und zu schätzen. Also lasst uns öfter unsere Augen und besonders unsere Herzen öffnen und die Welt um uns herum bewusst wahrnehmen.
Als Empfehlung habe ich an dieser Stelle ein Buch:
Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht – Er verliert mit 8 Jahren sein Augenlicht. Mit der Unterstützung seiner Eltern lernt er, seine Blindheit zu akzeptieren und damit umzugehen. Als Opfer des Nazi-Regimes beschreibt er eindrücklich, wie er diese Zeit meistert. Ein sehr bewegendes Buch.